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Über die Örtlichkeit, die Gastgeberfamilie Keller und das ganze Drumherum hat der Genussspecht von der Weser in seinen beiden Bewertungen schon alles Wissenswerte niedergeschrieben. Um diesen Bericht nicht komplett ausufern zu lassen, setze ich ganz deskriptiv mit dem Eintritt in das Restaurant ein. Nicht verschweigen möchte ich allerdings den kleinen Spaziergang dorthin. Er führte uns durch die grünen Wallanlagen und wurde in reichlich vorgeglühtem Zustand vorgenommen.
Schon beim Betreten des Anwesens war ich mittelschwer betrun….äh beeindruckt. Das klassizistische Gebäude, in dem das Restaurant untergebracht war, wirkte nicht nur von außen sehr feudal. Da wollte Borgi dem Pfälzer Landei mal so richtig zeigen, wo die vornehme Bremer Gesellschaft zu tafeln pflegt. Im Inneren des „hohen Hauses“ fühlten wir uns zwischen den weißen Säulen, der kunstvoll illuminierten Wandverkleidung, dem dunklen Parkettboden und den wie umgedrehte Regenschirme anmutenden Lampen eher wie in einer Museumshalle (für so modernes, zeitgenössisches Zeugs), als an einem Ort des Genießens. Doch dieser ganz besondere, individuell-artifizielle Touch verlieh den Räumlichkeiten ihren besonderen Charakter und machte neugierig auf den ambitionierten Küchenmix, den Chefkoch Marius Keller hier seit 2011 seiner aufgeschlossenen Klientel bietet.
Es war an diesem Abend nicht viel los im Canova und nach freundlicher Begrüßung seitens der jungen Servicedame befanden wir uns flugs an einem kultiviert eingedeckten Tisch direkt an der Fensterfront, durch deren Scheiben man die nächtlichen „Wall“ungen gut beobachten konnte. Wir hatten reichlich Gesprächsstoff im Gepäck (und nicht nur diesen, wie sich später noch herausstellen sollte…), immerhin war unsere letzte kulinarische Zusammenkunft in der Hansestadt (damals an Ostern beim leckeren Italiener „Due Fratelli“) schon ein gutes halbes Jahr her, und so vergaßen wir vor lauter Geplapper fast die Durchsicht der Speisen- und Getränkekarten.
Gran Borgo beauftragte mich nonchalant mit der Auswahl des passenden Weines. „Du suchst aus, ich lade ein!“ – Worte, denen ich beflissentlich Folge leistete. Ich blätterte in der gut bestückten Weinkarte im Ringbuchformat. Keine echte „Bibel“ wie in besternten Häusern, aber doch aller Ehren wert. Flaschenweise weiße Kreszenzen aus Deutschlands wichtigsten Anbaugebieten, ergänzt von einer Reihe ausgesuchter Spezialitäten aus Österreich, der Grande Nation und Italien. Bei den Rotweinen dominierten erwartungsgemäß die französischen, italienischen und spanischen Gewächse. Ich überschlug das Angebot und kam auf gute 120 Positionen. Die Qual der Wahl ergriff mich.
Soso, der Meister wollte also seinen Pfälzer Riesling-Padawan auf die Probe stellen. Würde er bei einem Fehlgriff seinen jungen Weinnovizen in die Tiefen seines Gewölbekellers in die Pfalz zurückschicken? Panik machte sich breit. Doch da, die Rettung. Unter den vier angebotenen Rieslingen aus den VDP-Lagen der Mittelhaardt (meine zweite Weinheimat!) stach mir sofort das Große Gewächs von A. Christmann aus Neustadt-Gimmeldingen („Mandelgarten“) ins Auge. Für 56 Euro gar nicht mal unfair kalkuliert. Die erste Flaschenweinhürde war genommen. Gut so.
Durch das intensive Studieren der breitgefächerten Palette an Rebensäften geriet ich in Sachen Speiseauswahl gegenüber meiner Tischnachbarn etwas ins Hintertreffen. Der Herr Borgfelder unn sin Fruu hatten anscheinend mächtig Hunger. Auch meine Herzensdame drängte auf eine baldige Entscheidung meinerseits.
Für einen Pfälzer Weinstubenhocker wie mich war das Entschlüsseln der hier gebotenen Speiseartikel gar nicht so trivial. Gut, dass es in der Karte ein kleines Glossar zur Begriffsklärung gab. „Knuf“, „Kikok“, „Kerbelknolle“ und „Knollenziest“ klang schon verdammt nach kulinarischer Alliteration. War aber keine. Dahinter verborg sich veganes Spitzen-Brot (Knuf), ein nur mit Getreide gefüttertes Hähnchen von Borgmeier (kein Scherz!!!) aus Delbrück (Kikok), eine wurmähnliche Wurzel, die angeblich nach Kohlrabi schmeckt (Knollenziest) und die süße, mehlige Wurzel des Kerbelgrüns (Kerbelknolle).
All das kommt bei Chefkoch Marius Keller auf den Tisch bzw. in den Kochtopf. Doch der war an jenem Abend gar nicht zugegen, wie uns seine Mutter Sylvia mitteilte. Er würde krank daheim im Bett liegen und sich für die kommenden Events zum Jahreswechsel noch etwas schonen. Aber seine rechte Hand, der talentierte Sous-Chef, würde unsere Erwartungen sicherlich genauso erfüllen, versprach uns die Chefin des Hauses und verschwand dann auch sehr zeitig.
Während sich der Wesergourmet aus der Karte ein 5-gängiges Mahl zusammenbastelte, musste ich bei der Bestellung dem mittäglichen Besuch in der Hamburger „Fischbeisl“ etwas Tribut zollen und konnte kulinarisch nicht ganz so in die „Vollen gehen“ wie mein scheinbar ausgehungerter Tischnachbar. Die mit Bedacht zusammengestellte Speisenkarte kündete von einer zeitgemäßen Interpretation der klassischen Küche, bei der auch gern die Produkte aus der näheren Umgebung mit einbezogen werden.
Da fiel mir die Entscheidung für den Norddeutschen Fischeintopf (in der kleineren Vorspeisenversion für 16 Euro) nicht allzu schwer. Dass hier die komplette Fischeinlage vom Bremer Spezialist für Meeresdelikatessen - F.L. Bodes - stammte, wusste ich beim Bestellen noch nicht. Die Dame an meiner Seite wählte vorweg den Winterlichen Blattsalat mit knackigem Wintergemüse und delikater Kräuter-Vinaigrette (8,90 Euro). Beim Hauptgang trotzte ich der raffinierten Regionalküche ein bodenständiges Schmorgericht ab. Den zarten Kalbsbäckchen (22,90 Euro), die von bunter Möhre und einem Gratin von der „mittelfrühen“ Lilly Kartoffel begleitet wurden, konnte ich nicht widerstehen. Sehr positiv fiel auf, dass man etliche Gerichte auch als kleinere Vorspeise bzw. als Zwischengang ordern konnte. Bei der Pasta mit Hirschragout, Preiselbeeren, Quitte, Waldpilzen und Parmesan (16,90 Euro) durfte es für meine Begleitung aber schon eine „ausgewachsene“ Hauptspeisenportion sein.
Das Große Gewächs aus der Pfalz wurde entkorkt. Schon beim Anblick dieses Pfälzer Highend-Gesöffs wurde mir ganz warm um die Leber. Ich stammelte etwas von Mineralität, intensiver Frucht und Finesse und wollte damit eigentlich nur sagen: was für ein genialer Tropfen funkelt uns denn da grüngelb aus dem auf Hochglanz polierten Glas entgegen. Die kaum spürbare, der Fachmann würde sagen: gut integrierte Säure, ist ja nicht gerade typisch für den Riesling aus meiner Heimat. Da hilft ja in vielen Fällen nur der Griff zum Mineralwasser, um die Säure im Schorle zu ertränken. Aber in so einem GG steckt eben die ganz hohe Kunst des Weißweinmachens und das schmeckt man dann eben auch. Geiler Stoff, der meine Freude auf den Fischeintopf noch zu steigern vermochte.
Bei dem Ess-Enthusiasten neben mir herrschte eine Stimmung wie in der Altsteinzeit kurz nachdem das Mammut zerlegt wurde. Seine Freude auf das Tatar und Knochenmark vom Auerochsen war genauso herrlich authentisch wie das Soulfood für Jäger und Leckereiensammler auf dem Teller vor ihm. Zeitgleich wurde die wohl portionierte Vorwegvariante des Fischeintopfes serviert. Die Protagonisten aus Neptuns Reich schwammen in einem herrlich aromatischen Sud. Fenchel, Queller und Estragon verliehen den perfekt gegarten Fischfiletstücken (Rotbarbe, Kabeljau) und Meeresfrüchten (Mies- und Jakobsmuscheln, Garnelen und Kalmar) einen mildwürzigen Frischerahmen, der den eigenaromatischen Meeresbewohnern noch genügend Geschmacksspielraum ließ. Insgesamt war der Teller von seinem Aromenbild viel geradliniger, als ich zunächst in Anbetracht des ungewohntem „Grünzeugs“ in meinem Teller vermutet hätte. Grundiert von einer wunderbar abgeschmeckten Suppe, die ich bis auf den letzten Tropfen lustvoll auslöffelte. Ein leichter Vorspeisengang, der mir geschmacklich sehr gut balanciert erschien und von frischen Grundzutaten geprägt war. Der korrespondierende Pfälzer Riesling passte dazu perfekt. So konnte es weitergehen.
Während Borgi sein verloren geglaubtes Eigelb unter 5 Gramm italienischem Wintertrüffel wiederfand, leerte sich so allmählich unser Großes Gewächs. Ich erhoffte mir insgeheim einen schweren Roten zu meiner mürben Kalbsbacke. Doch die Tischgemeinschaft sprach sich mehrheitlich für eine Flasche Rosé aus. Die Auswahl an lachsfarbenen Kreszenzen beschränkte sich auf gerade mal vier Flaschen. Der 2012er, aus der Pinot Noir-Traube gekelterte Sancerre Rosé von der Domaine Michel Thomas (34,50 Euro) war schnell beschlossene Sache. Doch der war vergriffen. Lediglich sein jüngerer „Bruder“ aus dem Jahre 2015 lag im für die Servicekraft unzugänglichen, da abgeschlossenen Weinkeller. Den Schlüssel dafür besaß sie nicht, den hatte nur der krank im Bett liegende Chef (vielleicht unterm Kissen?). Deshalb bot sie uns zwei Alternativen zum Probieren an, die uns jedoch nicht so recht überzeugten. Was tun also, wenn der gewünschte Wein nicht vom Personal geliefert werden konnte? Na klar, der kranke Chefkoch musste sich aus den Federn quälen und den Hochsicherheitsweinkeller aufsperren – nicht wegen einer Flasche Sancerre – ehe um der Zufriedenheit seiner Gäste willen. Nicht dass wir darauf beharrt hätten, all das lief ohne unser Wissen – quasi hinter den Kulissen ab und gab Aufschluss darüber, wie selbstverständlich man hier mit den Wünschen seiner Gäste umgeht. Für mich ist so eine Vorgehensweise definitiv nicht selbstverständlich – eher vorbildlich und höchst professionell.
Mit seinem dritten Gang, dem Nordsee-Kabeljau mit Bronzefenchel, Lauch und Bunter Beete zog mir mein Tischgenosse so richtig die Feinschmeckernase lang. Besonders das abwechslungsreiche Farbenspiel beim Gemüse wusste zu gefallen. Vom perfekt gebratenen Kabeljau ließ er mich zusammen mit einer leicht angerösteten, noch knackigen Scheibe Porree probieren. Da wirkte der Fisch beinahe wie ein Nebendarsteller bei dem wunderbar dichten Lauch-Aroma.
Zum durchaus trinkbaren, mit viel Aufwand herbeigeschafften Loire-Wein gesellten sich allmählich unsere Hauptgänge. Die stundenlang geschmorten und deshalb sagenhaft mürben Kalbsbäckchen thronten stolz übergossen auf einer kräftigen, handwerklich gut gelungenen Jus, die Borgi als „samtige Rotweinreduktion“ bezeichnete. Das Kartoffelgratin war noch leicht süffig, aber eher verhalten gewürzt. Seine dezente und deshalb gut korrespondierende Süße bot zusammen mit dem deftigen Fleischgericht einen äußerst ausgewogenen Gesamteindruck auf dem Teller. Kurzum: ein schnörkellos gut gekochtes Hauptgericht!
Das gleiche Urteil traf auch auf die mit Hirschragout getoppte Pasta meiner Begleitung zu. Die noch leicht bissfesten Fettuccine lagen kaum sichtbar unter einer erdig-würzigen Ragout-Haube, die mit angebratenen Waldpilzen, etwas Preiselbeersauce und frisch gehobeltem Parmesan geschmacklich unterfüttert war. Die Produktkombination passte sehr gut zusammen und stellte ein sauber ausgearbeitetes, winterliches „Waldgericht“ mit ordentlich „Schmackes“ dar. Ähnliches könnte ich an dieser Stelle über den Canova-Burger des Herrn Borgfelder berichten. Auch der sah handwerklich fundiert zubereitet und verdammt gut“burger“lich aus.
Kurz vor dem Dessert erklommen wir dann gemeinsam den siebten Sherry-Himmel. Peter Siemens, ein treuer Soldat Karls des V., soll die nach ihm benannte Rebsorte im 16. Jahrhundert vom Rhein nach Südspanien – genauer gesagt nach Jerez – gebracht haben. Die Trauben unseres 1947er (!!!) PX aus Borgis Privatbeständen (keine Ahnung wie viel Korkgeld er dafür hat hinblättern müssen…) stammten aus der Nachbarregion Montilla-Moriles, wurden in der Bodegas Toro Albalá vinifiziert und kamen laut Etikett im Jahre 2009 als großartiger Süßwein in die Flasche. Am Anfang etwas verhalten, dann aber mit üppiger Frucht nur so um sich werfend, waren wir alle sprachlos über dessen phänomenales Bouquet. Ein Erlebnis, das meine bis dahin eher kritische Einstellung gegenüber Sherrys komplett in Wohlgefallen auflöste. Und das bei jedem Schluck mit einem unendlich langen Finish. Der Sherry stahl unserem Dessert, einer soliden Crème brulée mit Tonkabohneneis (8,90 Euro), zwangsläufig die Schau, aber das nahmen wir gerne in Kauf.
„Ich stand von süßem Rausche trunken, wie in ein Meer von Seligkeit versunken…“ (Anfang von „Canovas Hebe“). Der gute Johann Gottfried Seume, der ja eigentlich ein Hardcore-Asket war, liefert mir die Worte, um den weiteren Verlauf dieses sensationellen Abends anzudeuten. Vielen Dank an unsere beiden kulinarischen Komplizen von der Bremer Genussfraktion, die uns diesen tollen Abend beschert haben. Das Rückspiel findet aber in der Pfalz statt.